50.000 Reichsmark vergraben

Die Steine und Erden GmbH in Goslar/Harz (nachmalig FELS-Werke), ursprünglich 1938 als Betriebsabteilung für Materialversorgung mit Ziegeln, Hüttenzement und Flußspat für die Salzgitteraner Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten gegründet, ist mit ihrem recht prachtvollen Verwaltungsgebäude in der Goslarer Ebertstraße für den Verfasser dieser Zeilen nicht irgendeine Firma. Denn schräg gegenüber von diesem netten Anwesen ist der Verfasser dieser Zeilen aufgewachsen. Der riesige Garten um das Verwaltungsgebäude hatte für spielende Kinder immer eine große Anziehungskraft gehabt. Vor allem im Herbst, wo man an einem abgelegenen Ende des Grundstücks regelmäßig über den Zaun kletterte, um dort Kastanien zu sammeln. Der Förster in Goslar zahlte schließlich 10 Pfennig pro Kilo. Für einen kleinen Pimpf wie mich damals ein ungeheurer Zuverdienst.

Dieser Garten begegnete mir jetzt plötzlich wieder. Dank Carola hat man heute ja Zeit für viele Dinge, die in normalen Zeiten links liegen bleiben. Beispielsweise für die Lektüre der von einem Finanzhistoriker wie mir seit Jahr und Tag zusammengetragenen Firmenchroniken. So las ich am Wochenende das Büchlein „Zehn Jahre Wiederaufbau 1949-1959“ der Steine und Erden GmbH in Goslar/Harz, das damals kurz nach meinem 4. Geburtstag erschienen war.

Solche Chroniken sind für den Finanzhistoriker immer eine Erkenntnisquelle, vor allem solche aus Zeiten, als die Vorstellungen von „politisch korrekt“ noch völlig andere waren als heute. Aus der Sicht 1959 trug die Wirtschaft noch an nichts eine Schuld, was ab 1939 in Deutschland passiert war. Auch bei der Administration von später im Donez-Becken übernommenen Betrieben hatte die Steine und Erden GmbH aus der Sicht 1959 nichts als bewundernswerte Aufbauleistung erbracht. Man erfährt aber auch so interessante Dinge wie: Den Auftrag zum Bau des Hüttenwerkes in Salzgitter mit in der geplanten Endausbaustufe 32 Hochöfen und zwei Stahlwerken führte ab 1938 mit Zustimmung des Beauftragten für den Vierjahresplan Generaloberst Hermann Göring ein US-amerikanischer Anlagenbauer aus …

Die Beziehung großer Teile der US-Industrie zu Deutschland zur damaligen Zeit war ohnehin deutlich vielschichtiger als es uns die weichgespülten Geschichtsbücher heute vermitteln. Aber darauf wollte ich jetzt auch gar nicht hinaus. Zurück zum Garten der Steine und Erden GmbH in meiner Geburtsstadt Goslar, über den man in der Firmenchronik erfährt:

Die erste Zeit nach dem Einmarsch der Amerikaner brachte die sofortige Beschlagnahme unseres Büros in Goslar. Mit vereinten Kräften stellten die Mitarbeiter der Verwaltung eine Arbeitsdienstbaracke in den Garten unseres Grundstückes, in der sie bis zum Jahr 1949 gearbeitet haben. Da eine geregelte Tätigkeit zunächst nicht möglich war, beschäftigte sich die gesamte Verwaltung mit dem Umgraben von erreichbaren Grundstücken und dem Legen von Kartoffeln. 50.000 Reichsmark, die wir vor dem Einmarsch der Truppen vergraben hatten dienten als Notpfennig. Alle Mitarbeiter bekamen unbeschadet der Stellung je nach Kopfzahl der Familien einen Mindestbetrag, der das nackte Leben sicherte.

Das geht vor allem an diejenigen, die sich angesichts der gestrigen Beschlüsse zur Pandemie-Bewältigung vor Entrüstung gar nicht mehr einkriegen wollen. Ihr lieben Leute: Solange wir noch nicht an dem Punkt sind, wo das gesamte Bundeskabinett außer dem dafür zu ungelenken Wirtschaftsminister Altmaier zum Kartoffeln Legen abkommandiert ist, solange geht es uns allen aber noch sowas von gut …

Wie Arsch auf Eimer passt zu der netten kleinen Geschichte und als Moral aus der Geschicht‘, was man am 5. Januar unter der Zwischenüberschrift „Rückfall in die Rezession“ im Handelsblatt lesen durfte: Der Handelsverband Deutschland (HDE) forderte angesichts der sich abzeichnenden Verlängerung des Lockdowns Nachbesserungen bei den staatlichen Finanzhilfen für die Branche. „Die Händler brauchen jetzt dringend passgenaue und schnelle staatliche Hilfen, um diese schwere Zeit überstehen zu können“, sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth dem Handelsblatt.

Nur einen Tag später, am 6. Januar erfährt der erstaunte Zeitgenosse dann auf der Titelseite des gleichen Handelsblatt: Obwohl 2020 viele Geschäfte wegen des Lockdowns wochenlang geschlossen waren, konnte der deutsche Einzelhandel seinen Umsatz im vergangenen Jahr nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes um 5,3 Prozent steigern, den höchsten Zuwachs seit 1994.

Vielleicht sollte man den Cheflobbyisten Genth dieses Jahr aus erzieherischen Gründen auch mal ein paar Monate Kartoffeln Legen lassen. Damit die Arbeit an der frischen Luft sein Gehirn freipustet und er in Zukunft von allein darauf kommt, wie surreal es ist, daß eine Branche mit 5,3 % Wachstum ihre Hände nach dem Portemonnaie des Staates auszustrecken wagt.

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