Chinas geheimer Plan

Der 1. Advent naht. Zeit für Besinnlichkeit und Einkehr. Deshalb ist es höchste Zeit, daß ich Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal meinen Lieblings-Autor vorstelle: Es ist Tillmann Prüfer, Mitglied der Chefredaktion des „Zeit-Magazins“. Der junge Mann ist knapp 20 Jahre später als ich auf diese inzwischen unerträglich durchdigitalisierte Welt gekommen. Deshalb ist es auf den ersten Blick ausgesprochen verdächtig, dass Tillmann Prüfer trotz seiner Jugend oft ähnliche Ansichten zu haben scheint wie ich. Ziemlich absonderliche und so völlig neben dem Zeitgeist liegende Ansichten nämlich, vor allem was das Thema Digitalisierung und Künstliche Intelligenz angeht. Doch der junge Mann ist der Urenkel eines deutschen Missionars und konnte dank familiärer Vorbelastung der Weisheit auf der Überholspur entgegenstreben. Kleine Kostprobe gefällig?

In China ist es an einer Fußgängerampel zu einem Zwischenfall gekommen. Eine prominente Unternehmerin wurde beschuldigt, eine rote Fußgängerampel überquert zu haben, obwohl sie gar nicht in der Nähe der Ampel war. Die automatische Gesichtserkennung einer Verkehrsüberwachungskamera glaubte, ihr Gesicht erkannt zu haben. Es war aber gar nicht ihr Gesicht, sondern das Konterfei der Frau auf der Werbefläche eines Busses, der über die Kreuzung fuhr.

Die Dame heißt Dong Mingzhu und ist Chefin des Klimaanlagenkonzerns Gree Electric. In China wird das System des „naming and shaming“ gepflegt. Wer in der Stadt Ningbo die Straße bei Rot überquert, dessen Gesicht erscheint auf einem großen Bildschirm. Das System kann dabei auf Personalausweisdaten zugreifen und nennt deswegen gleich den Namen des Täters. In diesem Fall proklamierte das System, die 64-jährige Dong habe eine Straftat begangen.

In Shenzhen wurden mit solch einem System 14.000 Übeltäter innerhalb von nur 10 Monaten identifiziert. An einer einzigen Kreuzung. Nun ist nicht ganz klar, wie viele von diesen Kriminellen in Wahrheit Gesichter auf Werbeplakaten waren. Wahrscheinlich bemerkt man in China seine eigene Prominenz auch daran, dass man ständig Strafbefehle von den verschiedensten Kreuzungen des Landes zugestellt bekommt.

In China kann man wahrscheinlich über die Praxis der deutschen „Blitzer“ nur lächeln: Wenn hier Verkehrssünder fotografiert werden und die einen Brief nach Hause geschickt bekommen, dann ist auf dem Foto ein Gesicht mit aufgerissenen Augen zu sehen. Eine chinesische Anlage kann an Ort und Stelle den Täter aktenkundig machen. Wahrscheinlich kann die nächste Generation dieser Geräte den Täter verurteilen und in ein Straflager einweisen.

Dong Mingzhu ist übrigens die bekannteste Geschäftsfrau des Landes. Ihr Mann starb früh, sie gab ihren Sohn zu ihrer Mutter und begann eine beeindruckende Managementkarriere. Sie nahm einen Job als Vertriebsangestellte bei Gree Electric an und vervielfachte dort schnell die Umsätze. Sie wurde Vertriebschefin, mittlerweile ist sie CEO bei Gree. In ihrer bald 30-jährigen Karriere steigerte sie den Börsenwert von Gree um 2.300 Prozent. Gree investiert in Solarenergie und Robotik und ist nun auch in die Entwicklung elektrisch angetriebener Autos eingestiegen. Dong hat einen Bestseller in China geschrieben und gilt als eine der zehn wichtigsten asiatischen Wirtschaftsführerinnen.

Inzwischen arbeitet sie daran, Gree zu einer globalen Marke zu machen, auch im Westen soll man das Unternehmen bald kennen. Gegen Dong Mingzhu ist Steve Jobs ein Krämer. Wahrscheinlich werden wir noch viel von Dong Mingzhu hören. Das erste Mal, dass die westliche Welt von ihr Notiz nahm, war allerdings, als sie vermeintlich über eine rote Ampel ging und das eine Verkehrskontrollanlage meldete. Vielleicht ist das der beste Weg, wie man chinesische Wirtschaftsführer in Deutschland bekannt machen kann. Vielleicht folgt das alles einem Plan. Falls dem so ist, dann ist die Künstliche Intelligenz von chinesischen Verkehrsüberwachungsanlagen vielleicht entwickelter, als wir meinen.

(Quelle: Handelsblatt vom 30. November 2018)

Bei der Gelegenheit möchte ich die geneigte Leserschaft schon einmal schonend darauf vorbereiten, dass ich vom 7. Januar bis Ende Februar 2019 mal wieder auf Kreuzfahrt sein werde. Man sollte es mir gönnen – schließlich hat sich die CS Realwerte AG auch in 2018 wieder einen goldenen Arsch verdient und wird die Dividende für das zu Ende gehende Jahr auf 100 EUR pro Aktie steigern. Ausserdem lassen sich unsere Geschäfte auch mühelos von unterwegs betreiben. Nur auf mein albernes Geschwätz hier müssen Sie dann mal wieder fast zwei Monate lang verzichten.

Die Reise hat zwei Besonderheiten. Erstens: Sie endet in Shanghai. Sollten Sie also anschließend nie wieder etwas von mir hören, so bin ich mit größter Wahrscheinlichkeit der Rache einer chinesischen Verkehrsüberwachungsanlage zum Opfer gefallen und modere ohne Kontakt zur Außenwelt in einem nordchinesischen Straflager vor mich hin. Zweitens: Die Reise wird von Redakteuren der ZEIT begleitet. Vielleicht lerne ich den von mir so geschätzten Tillmann Prüfer dann sogar persönlich kennen?

In den letzten Wochen konnte man immer wieder besorgte Stimmen hören, Europa drohe gegenüber China und USA beim Thema Künstliche Intelligenz den Anschluß zu verlieren. Jedes Mal wenn ich das lese macht mein Herz einen Freudensprung. Das wäre großartig! Auch dieses Thema wurde schon in einem Science-Fiction-Film verarbeitet: Die nächste Generation chinesischer Verkehrsüberwachungsanlagen (und hier meine ich nun wirklich explizit jede nur denkbare Form von Verkehr) wird die auf Grund ihrer Gesichter erkannten Übeltäter vollautomatisch verurteilen und die Strafe vollstrecken.

Man kann dem allerdings entrinnen: In jedem gut sortierten S/M-Laden gibt es kleidsame Kopfmasken aus Leder oder Latex. Es wäre vielleicht vorstellbar, dass es angesichts der massiven Eingriffe chinesischer Überwachungsanlagen in das Privatleben in Zukunft das kleinere Übel sein wird, auch öffentlich derart maskiert herumzulaufen.

Ich kenne niemanden, der sich im oder beim Verkehr in seinem ganzen Leben noch nie etwas hat zu Schulden kommen lassen. Wir können also nur hoffen, dass der in China lebende Teil der Weltbevölkerung den Kopfmasken-Trick nicht mitkriegt oder ihn aus Angst vor Gesichtsverlust nicht benutzt.

Versetzen Sie sich beispielsweise mal in die Lage der bedauernswerten Frau Dong Mingzhu: Natürlich kennen wir nicht ihren Geschmack in puncto extravaganter Kleidung. Aber es ist nicht auszuschließen, dass sie sich mit ihren 64 Jahren nicht mehr daran gewöhnen will, das mit der Kopfmaske einfach mal ganz locker zu sehen. Jedenfalls nicht, wenn sie eine Vorstandssitzung zu leiten hat. Schließlich bis ich im gleichen Alter, und weiß genau: Da müsste ich schon mehr als hackedicht sein, ehe ich mich trauen würde, mir eine chice nietenbesetzte Ledermaske überzustreifen und dann irgendwo bei Rot über die Kreuzung zu sprinten. Obwohl – in Shanghai, wo mich kein Mensch kennt??

Wir dürfen folglich berechtigter Weise hoffen, dass am Ende alle Chinesen die ganze Härte der Gesetze treffen wird. Dass dank lückenloser Überwachung die Künstliche Intelligenz bald erkennt, dass ausnahmslos jeder Chinese ein Straftäter ist. Die kritisches Denken (oder überhaupt Denken, was etwas völlig anderes ist als Tüfteln) ohnehin noch nie so richtig gewohnt gewesene Ingenieurswissenschaft wird sich ganz bestimmt nicht entblöden, die für die Massenabfertigung in diesem Fall in großer Zahl erforderlichen Hinrichtungsroboter serienreif zu entwickeln.

Gönnen wir den Chinesen also ihren Vorsprung beim Thema Künstliche Intelligenz. Lassen Sie uns auf die Knie fallen und flehen, dass dieser Vorsprung bald uneinholbar groß sein wird. Denn dann können wir gewiss sein, dass das chinesische Volk von seinen selbst erschaffenen und mit Künstlicher Intelligenz bestäubten Maschinen mit der den Blechgehirnen eigenen Logik in absehbarer Zeit komplett ausgerottet werden wird.

Danach werden wir Europäer wieder unangefochten an der Spitze stehen, ohne diesen neumodischen, nur irrem Fortschrittsglauben entspringenden Schwachsinn überhaupt mitgemacht zu haben. „Überholen ohne Einzuholen“ lautet die Devise. Das wussten schon vor über 30 Jahren meine damaligen Gesprächspartner im Ministerium für Außenhandel der DDR.

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