Die andere Seite der Medaille

Moskau vor 40 Jahren. Damals, als der Verfasser dieser Zeilen noch etwas Anständiges arbeitete, war er als Leiter der Finanzabteilung eines bedeutenden Maschinen- und Anlagenbauers unter anderem für die Exportfinanzierungen zuständig. Und die musste man bei einem größeren Geschäft mit der UdSSR, im konkreten Fall dem Bau einer Getreidesiloanlage im Hafen von Tallinn, immer gleich mit im Angebot haben, sonst brauchte man gar nicht erst antreten.

Solche Verhandlungen waren praktisch ein kleiner Urlaub. Man wusste nie, wann die Gegenseite weiterzuverhandeln gedachte – aber wenn, dann wurde man binnen 24 h erwartet. In der heißen Phase hieß das also, wochenlang in Hab-Acht-Stellung vor Ort zu sein. Viele Tage lang passierte gar nichts, man schaute sich in Moskau alles mögliche an, bummelte über die Wochenmärkte und kaufte, was die Saison gerade anbot, um es dann abends in der Wohnküche der Moskauer Repräsentanz zu bruzzeln. Echtes Teamwork: Ein Geschäftsführer schälte Kartoffeln, der Dolmetscher schnitt Zwiebeln und Kräuter, der Verfasser dieser Zeilen putzte „griby“, also Pilze. Der Vertriebsmann durfte nach dem Essen den Abwasch machen.

Die Wochenenden hatten auch ihren Reiz: Auf einer menschenleeren Straße durch einen endlos erscheinenden menschenleeren Wald, aber mit bewaffneten Streckenposten alle paar hundert Meter, fuhr man in der warmen Jahreszeit üblicherweise mit der Familie des deutschen oder des Schweizer Botschafters zum Faulenzen und Grillen an den außerhalb von Moskau gelegenen „Diplomatenstrand“ an der Moskwa.

Gewohnt wurde im Hotel, in dessen Speisesaal endlos lange Tische aufgereiht waren. Man setzte sich in bunter Reihe, wo gerade Platz war. Eines Tages kamen wir also einem Kriegsveteranen gegenüber zu sitzen, an seiner gebügelten Uniformjacke mit allen Orden aus der Stalinzeit zweifelsfrei als solcher zu erkennen. Als unser Gegenüber bemerkte, dass wir Deutsche waren, stand er wortlos auf, nahm sein volles Rotweinglas und schüttete es unserem Dolmetscher über den Kopf. Wir waren so geplättet, daß niemand etwas sagte, niemand versuchte sich zu wehren. Welche Erinnerungen mochte dieser Mann an den Krieg und die Deutschen bloß haben, daß er sich zu so einem Verhalten hinreißen ließ?

Diese Situation erinnernd kann der Verfasser dieser Zeilen kein großes Bedauern empfinden für rußlandstämmige Menschen, die die Gastfreundschaft und die Freiheiten unseres Landes bisher gern genossen haben und die jetzt gelegentlichen Anfeindungen ausgesetzt sind. So ist das halt, wenn sich zwei Völker noch nicht oder nicht mehr besonders gern haben.

Szenenwechsel. Moskau vor 15 Jahren. Gespräche mit einem früheren Mitglied der Regierung Jelzin erforderten einen mehrtägigen Aufenthalt in Moskau. Mit dem üblichen Drumherum, also nachmittags Sightseeing mit der Entourage und abends Festbankett. Bei der Stadtbesichtigung stand der Verfasser dieser Zeilen plötzlich vor einem alten hutzeligen Mütterchen, das am Eingang einer U-Bahn-Station Sträuße mit Maiglöckchen feilbot. Die bittere Armut platzte der alten Frau aus allen Knopflöchern. Das dauerte den Verfasser dieser Zeilen so sehr, daß er spontan beschloß, das mit der besten Ehefrau von allen geteilte Hotelzimmer mit einem Maiglöckchenstrauß zu verschönern. Was die alte Frau haben wollte, waren umgerechnet nur Pfennige. Der ihr in die Hand gedrückte Rubel-Schein war das Zig-fache des Preises, den sie genannt hatte. Das ungläubige Gesicht, die unzähligen Bekreuzigungen, die dem Verfasser dieser Zeilen auf russisch hinterhergerufenen Segenswünsche – geradezu herzzerreißend.

Das ist die andere Seite der Medaille. In Rußland wird der unglückselige Krieg des Herrn Kaputin wieder besonders die Menschen treffen, die schon bisher zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel hatten. Mit diesen Menschen müssen wir gerade auch jetzt, bei allem verständlichen Groll auf Russlands Eliten, trotzdem Mitleid haben und dürfen sie nicht vergessen.

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