Anschluss verloren
„56 amerikanische Unternehmen dominieren das Handelsblatt-Ranking der wertvollsten Börsenstars. Deutschland ist nur noch mit SAP und Siemens dabei.“ Darüber beklagt sich heute, unter der oben zitierten Überschrift „Anschluss verloren“, Ulf Sommer gleich auf der Titelseite des „Handelsblatt“.
Ulf Sommer ist ein altgedienter Haudegen des klassischen Journalismus, seit nunmehr 23 Jahren in Diensten des Handelsblatts, der es doch eigentlich besser wissen sollte. Zumal er seine Doktorarbeit über DDR-Parteiengeschichte geschrieben hat, weshalb der Verfasser dieser Zeilen sowieso schon mal eine etwas kritischere Grundhaltung zu jedwedem System erwarten würde.
Das Lamento auf der heutigen Handelsblatt-Titelseite hat einen entscheidenden Nachteil: Der „Wert“ eines Unternehmens bemißt sich nach dieser (unterhaltsamen, aber unhaltbaren) Theorie aus der Multiplikation des Börsenkurses mit der Anzahl der ausgegebenen Aktien.
Das Problem dabei ist nur, daß Börsenkurse nichts weiter als in keiner Form rational begründbare Ziffern sind, die jeder Schimpanse im Leipziger Zoo auf’s Papier gekritzelt haben könnte.
Untrennbar in die Lebenserfahrung des Verfassers dieser Zeilen eingeschweißt und zwei Jahrzehnte lang sein größtes Börsenengagement war die Blaue Quellen Mineral- und Heilbrunnen AG. Die wurde rauf- und runteranalysiert, die Betriebsstätten wurden angeschaut, regelmäßige Gespräche mit dem Vorstand waren selbstverständlich. Zu der Zeit in den 1980er Jahren, als der Verfasser dieser Zeilen anfing sich für die Blaue Quellen Mineral- und Heilbrunnen AG zu interessieren, eine ausgezeichnet rentierende und beständig wachsende deutsche Tochter des Nestlé-Konzerns, lag deren Börsenwert bei 7 % vom Jahresumsatz. Heutzutage dagegen ist alles mit einer Bewertung von < 100 % vom Jahresumsatz fast schon ein Sanierungsfall, und mehrere hundert Prozent sind auch nichts Ungewöhnliches.
Nur eine so lange Zeitspanne an Börsenerfahrung läßt erkennen, daß die „Richtigkeit“ einer Börsenbewertung eine höchst relative und ständig wechselnden Moden und Zeitgeistströmungen unterliegende Sache ist, die keinerlei Logik folgt, sondern höchstens so nebenbei aus dem permanenten Chaos des Weltgeschehens herausschlüpft.
Insofern sind die „56 amerikanischen Unternehmen“, die den Herrn Sommer den Untergang des kontinentaleuropäischen Abendlandes befürchten lassen, nicht etwa wertvoll, sondern einfach nur unverhältnismäßig teuer. Das ist nichts worüber sich der gemeine Erdenbewohner großartig Gedanken machen müsste. Er hat nämlich im Normalfall andere, sehr viel lebensnähere Sorgen.
Der „Wert“ eines Unternehmens mißt sich, jedenfalls nach der Überzeugung des Verfassers dieser Zeilen, an der Frage, ob es zu fairen Preisen ordentliche und nützliche Produkte herstellt, ob es seinen Kunden mit Respekt begegnet, ob es eine möglichst große Anzahl Mitarbeiter zu anständigen Bedingungen beschäftigt und Menschen nicht als Produktions- oder Kostenfaktoren sieht, ob es seine Steuern ordentlich zahlt und nicht versucht über Steueroasen zu tricksen, ob es der Umwelt und der ganzen Erde mit Achtung begegnet und die Schöpfung bewahrt. In einer anständigen Gesellschaft stünde im Pflichtenheft für ein gut geführtes Unternehmen die Frage der Höhe der Dividende und des Börsenkurses mindestens mal sehr weit hinten.
Der „Wert“ eines Unternehmens definiert sich aus seiner Nützlichkeit für die gesamte Gesellschaft, nicht aus einem zufälligen Börsenkurs. Ob Unternehmen wie Facebook, die auf dieser Erde jede Form von Individualität und Privatsphäre zerstören, wie Boeing, die vorsätzlich absturzgefährdete Flugzeuge produzieren, oder wie Volkswagen, die schamlos Abermillionen von Kunden betrügen und sich dabei auch noch im Recht sehen, ob solche Unternehmen überhaupt einen Wert haben können, das darf getrost bezweifelt werden.
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