Der Blick über den Tellerrand

Vorhin habe ich anläßlich eines ARD-Beitrages über den Zertifikate-Vertrieb in der Sparkassen-Organisation in den Jahren 2007/08 die Fakten noch einmal ein bißchen aus der Sicht des Finanzhistorikers und Sammlers Historischer Wertpapiere erzählt. Der Vorteil dieses Berufes und dieses Hobbys ist nämlich, daß man gewohnt ist, in sehr langen Zeiträumen zu denken. Wenn man dann noch ein einigermaßen funktionierendes Gedächtnis hat, ist man eigentlich davor sicher, von den Blasenbildungen des Augenblicks auf’s Glatteis geführt zu werden.

Kaum war der Beitrag vorhin veröffentlicht, gab es auch schon eine Handvoll Reaktionen unserer Leser. Weshalb mir dann noch ein paar mehr Details aus dieser Zeit in Erinnerung kamen.

Die ARD hatte ja (wohl nicht zu Unrecht) besonders die Sparkassen auf’s Korn genommen, die da besonders eifrig „Produkte“ unter’s Volk brachten. So verwundert es nicht, daß damals auch die NORD/LB (bei der ich selbst vor über 40 Jahren mal eine Banklehre gemacht hatte) resp. die Braunschweigische Landessparkasse bei diesem Spiel mitspielen wollte. Nun ist Südniedersachsen nicht gerade für eine übermäßige Häufung börsennotierter Aktiengesellschaften bekannt, aber wir haben ja die Salzgitter AG.

Mein Kundenbetreuer bei der NORD/LB ist seit Jahrzehnten ein guter Freund von mir. Nebenbei bemerkt ist er auch der aktuelle Ehegatte meiner geschiedenen ersten Frau. Das erzähle ich Ihnen aber nur, um zu unterstreichen, daß wir uns wirklich sehr gut kennen. Auch die Wertpapierberater der NORD/LB hatten damals ihre Vertriebsvorgaben und ihre Rennlisten, wonach sie ihre Kunden abtelefonieren mussten, um „Produkte“ zu verkaufen. In dieser Beziehung waren die Szenen im genannten ARD-Beitrag übrigens fast beklemmend realistisch. So gut wie wir uns kennen wusste mein Freund deshalb schon vorher ganz genau, daß er mit diesem Anruf bei mir voll in die Scheiße fasst – aber der Computer hatte ihm eine Liste möglicher Opfer unter seinen Kunden ausgespuckt, auf der ich gefälligst abzuhaken war.

Die Salzgitter-Aktie stand damals, 2007/08, mit einer kurzen Unterbrechung weit über 100. Ohne große Umschweife kam mein Freund auf den Punkt. Er hatte nämlich eine von der NORD/LB aufgelegte Aktienanleihe auf die Salzgitter AG unter’s Volk zu bringen. Es heißt zwar, um den ohnehin dummen Kunden endgültig in Sicherheit zu wiegen, fälschlicher Weise „Anleihe“, aber in Wirklichkeit ist dies so etwas wie eine Verkaufsoption für Salzgitter-Aktien, die der Kunde der Bank verkauft. In Wahrheit bekomme ich hier keine Zinsen, sondern eine Optionsprämie, die der Bank das Recht gibt, mir statt Bargeld wertlose Salzgitter-Aktien zurückzugeben, wenn diese entsprechend gefallen sein sollten. Es ist eine Schande, daß diese verkappten Börsentermingeschäfte mit ahnungslosen Privatkunden bis heute legal zu sein scheinen …

Wie gesagt, die Salzgitter-Aktie stand gerade weit über 100. Das eingeübte Verkaufsgespräch, das auf Menschen ohne Gedächtnis setzte, begann. „Kannst Du Dir vorstellen, daß die Salzgitter-Aktie innerhalb der nächsten x Jahre unter 50 fällt??“ – „Aber natürlich kann ich mir das vorstellen, und mehr noch: Das kann ich mir nicht nur vorstellen, das wird sie auch.“ Damit war das Verkaufsgespräch zu Ende. Wie bereits gesagt, das wusste mein Freund auch schon vorher, aber der Vertriebsdruck auf die Wertpapier-Berater (von denen nicht wenige damals daran zerbrochen sind) zwang ihn zu diesem Telefonat. Die meisten Banken und Sparkassen haben damals, von Gier getrieben, als System versagt, und sie tun es bis heute.

Weshalb war ich vor 10 Jahren schon beratungsresistent? Nun, der Finanzhistoriker wusste eben aus dem Gedächtnis, daß es die Salzgitter-Aktie bis 2005 jahrelang zu Kursen zwischen 6 und 12 Euro zu kaufen gegeben hatte. What goes up, must come down. So kam es dann auch. Mit der tollen Aktienanleihe hätte man ziemlich in’s Klo gefaßt. Nach der Finanzkrise gab es die Salzgitter-Aktie über Jahre immer mal wieder zu 25. Den Mindestkurs von 50, unter dem der stolze Besitzer der „Aktienanleihe“ kein Bargeld mehr wiederbekam, sondern Salzgitter-Aktien mit Kurs 50 abgerechnet, diesen Kurs hat die Aktie seit dessen Unterschreiten im Jahr 2011 (mit einer denkbar knappen Ausnahme nur für wenige Tage zur Jahreswende 2017/18) nie wieder gesehen …

Bei Lichte betrachtet hat meine Sammlung Historischer Wertpapiere eigentlich überhaupt nichts gekostet. Sie hat mir auch für meine heutigen Börsengeschäfte so viel finanzgeschichtliche Erfahrung gebracht, daß sie sich durch das nicht verlorene Geld aus nicht gemachten Fehlern finanziert hat.

Übrigens, nächsten Samstag ist in Frankfurt/Main im NH-Hotel in der City die große Herbst-Auktion der Freunde Historischer Wertpapiere mit dem feinsten Angebot, das dieser Anbieter jemals vorzustellen hatte.

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Viel Spaß beim Blick über den Tellerrand!

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