Der Nuklearsch
Irgendwie beschleicht den Verfasser dieser Zeilen das Gefühl, daß gerade mal wieder die halbe Menschheit und auch eine Menge gebildete Leute auf eine moderne Version vom Märchen von des Kaisers neuen Kleidern hereinfällt.
Die Rede ist, wie könnte es anders sein, vom Chatbot ChatGPT. Und die Frage ist: Bis zu welchem Punkt denn noch wollen wir uns das Arbeiten und das Denken von Blechgehirnen abnehmen lassen? Das ist jetzt kein Scherz, sondern eine wissenschaftlich erforschte Tatsache: Unser heutiges menschliches Gehirn ist inzwischen um 10 % kleiner geworden im Vergleich zu dem unserer Vorfahren, die alle Herausforderungen noch analog und oft draußen an der frischen Luft meistern mussten.
Frank Dopheide hat im Handelsblatt vom 8. Februar einen äußerst bemerkenswerten Beitrag verfasst unter der Überschrift „Was KI mit uns macht“. Er endet mit folgendem Absatz:
„KI kann alles berechnen, erfühlen kann sie nichts. Sie hat für alles eine Antwort, aber für nichts ein Gespür. Aber das macht den Unterschied.“
Früher, als menschliche Hirne noch ihre normale Größe hatten, hätte man es wohl für eine sehr abwegige Idee gehalten, seine Examensarbeit von einem Chatbot schreiben zu lassen. Nein, früher fing das maschinelle Herumstochern in menschengemachten Texten ja auch erst mal mit einer ganz harmlosen kleinen Sache an: Der Silbentrennung. Das war in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, also vor mehr als drei Jahrzehnten. Man sollte also meinen, eine im Vergleich zu den jetzt diskutierten Aufgaben eines Chatbots kinderleichte Sache wie Silbentrennung hätten die Blechgehirne seit langem im Griff. Wer von Ihnen, verehrte Leser/innen, würde da jetzt mit JA antworten? Eben.
Das Handelsblatt führte ein gestern veröffentlichtes Gespräch mit dem früheren US-General und späterem CIA-Chef David Petraeus über den Ukraine-Krieg und mögliche weitere Entwicklungen. Am Schluß wird die Frage gestellt, ob westliche Waffenlieferungen zu einer unvorhersehbaren Eskalation führen könnten. Selbst das Silbentrennprogramm einer so renommierten Zeitung rückt Herrn Putin dann in die Nähe zum Nuklearsch. Das fehlende -lag folgt in der nächsten Zeile.
Wenn die Menschheit in über drei Jahrzehnten nicht einmal funktionierende Silbentrennprogramme zu entwickeln vermochte, dann möchte sich der Verfasser dieser Zeilen lieber nicht vorstellen, zu was für haarsträubendem Blödsinn künftig Maschinen wie ChatGPT fähig sein werden. Stellen wir uns also jetzt ganz ehrlich die Frage: Laufen wir mit dem unglaublichen Hype um ChatGPT in unerschütterlichem blinden Fortschrittsglauben nicht schon wieder der nächsten Hirnrissigkeit hinterher?
Dass diese Maschine kürzlich einige Ergebnisse lieferte, die in allen Medien grenzen- und kritiklose Euphorie auslösten, bedeutet überhaupt gar nichts. Die Ergebnisse sind reiner Zufall. Niemand kann jedenfalls ohne wenn und aber garantieren, daß ausnahmslos jede dem ChatGPT gestellte Aufgabe ein valides Ergebnis zeitigen wird. Das muß man aber verlangen, denn wenn man der Maschine zugestehen würde, sich irren zu dürfen wie ein Mensch, wozu bräuchte man die Maschine dann überhaupt?
Mehr als oft genug produziert ChatGPT jedenfalls auch ausgemachten Blödsinn. Ohne daß irgend eine Systematik zu erkennen wäre, wann ChatGPT ein akzeptables Ergebnis produziert und wann ausgemachten Blödsinn. Leider ohne daß besagter Blödsinn auf Anhieb als solcher zu erkennen wäre. Zu den inzwischen sattsam bekannten „alternativen Fakten“ kommen künftig durch Chatbots auch „alternative Antworten“. Das macht die Welt nicht gerade besser. Darüber redet nur keiner, mal abgesehen von ein paar kritischen Fachleuten, die ChatGPT als „bullshit generator“ bezeichnen.
Die Protagonisten der neuen Chatbots kennen die Probleme natürlich. Microsoft versucht ja gerade, in seine Suchmaschine Bing eine ähnliche Funktion zu integrieren. Dass die Maschine im Testbetrieb auch falsche Ergebnisse liefert, streitet der dazu (wieder einmal von Handelsblatt-Redakteuren) befragte Microsoft-Mitarbeiter auch gar nicht ab. „Manchmal halluziniert das System,“ war seine entwaffnend offene, aber eben auch verstörende Antwort.
Also, mal ganz ehrlich, liebe Leute: Auch für den ziemlich überschaubaren Rest seines Lebens möchte sich der Verfasser dieser Zeilen lieber mit mürrischen Behördenmitarbeitern, übereifrigen Betriebsprüfern oder zugekifften karibischen Einwanderungsbeamten herumschlagen, anstatt sich künftig vielleicht ohne jede Einredemöglichkeit den Entscheidungen einer halluzinierenden Maschine beugen zu müssen.
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