Letztes Jahr standen wir vor dem Abgrund

In grauer Vorzeit fungierte der Verfasser dieser Zeilen auch mal als Leiter der Finanzabteilung eines großen Braunschweiger Maschinen- und Anlagenbau-Unternehmens. Eine seiner Marotten war es damals, Sprüche, die ihm besonders gut gefielen, kalligraphiert einzurahmen und an die Bürowand zu hängen.

Aber langsam und der Reihe nach. Heute brachte das „Handelsblatt“ einen 2-Seiter „Finanzstabilität: Neue Warnsignale vom europäischen Immobilienmarkt“. Als Aufmacher lesen wir: „Wer in diesen Tagen Aufseher und Banker nach den größten Risiken für die Finanzstabilität fragt, der bekommt häufig eine Antwort: Gewerbeimmobilien.“

Das verwundert kaum. Außer in Brüssel, wo die Werte mit 4,3 % p.a. pari liegen, sind in allen großen europäischen Büroimmobilien-Märkten die Refinanzierungskosten im Augenblick höher als die Mietrenditen für Büroflächen in 1A-Lagen. Das ist kein gesunder Zustand. Und da in dieser Phase des Zyklus weder ein erneuter Anstieg der Büromieten wahrscheinlich ist noch ein baldiger Zinsrückgang, gibt es für die Auflösung dieses Dilemmas nur eine Lösung: Die Preise für Gewerbeimmobilien müssen sinken. Das wiederum reisst tiefe Löcher in die Bilanzen von Immobilieninvestoren, aber auch Immobilienfonds, jedenfalls wenn sie (was leider die allermeisten tun) Mickey-Mouse-Bilanzen nach IFRS erstellen. Das wiederum alarmiert die finanzierenden Banken. Das wiederum provoziert eine ganze Reihe von Notverkäufen. Und das drückt schließlich weiter auf das Preisniveau. Ein Teufelskreis, wie in jedem Zyklus bisher.

Savills, eine feste Grösse im europäischen Immobiliengeschäft, veröffentlichte zum Thema „Preisanpassungen bei Gewerbeimmobilien“ kürzlich die ausgesprochen prägnante Studie „EME Office Value Analysis Q1 2023“. Demnach haben die wichtigsten Märkte seit dem Höhepunkt des letzten Zyklus zur Jahreswende 2021/22 bisher wie folgt korrigiert:

Hätten Sie gedacht, daß Gewerbeimmobilien in fünf großen deutschen Teilmärkten, nämlich Berlin, Frankfurt/Main, München, Hamburg und Köln binnen dieses einen Jahres bereits um über 30 % im Wert korrigiert haben? Uns jedenfalls hat das ganz schön überrascht. Es war übrigens die schnellste Korrektur, die man bisher jemals in einem Zyklus gesehen hatte. In allen vorangegangenen Zyklen dauerte das mindestens doppelt so lange.
Also bereits wieder Entwarnung? Für London-City, Amsterdam, Oslo und die größeren deutschen Teilmärkte sieht Savills das so. Für die übrigen europäischen Regionen erwartet man, übrigens bereits für Q2 2023, folgende Korrekturen, um im Bereich einer fairen Bewertung anzukommen:

 

Über alles gesehen, so glaubt Savills, haben wir zwei Drittel der notwendigen Korrekturen in diesem Zyklus bereits hinter uns. Doch diese Sicht der Dinge hält der Verfasser dieser Zeilen für zu optimistisch.

Erstens: Es reicht nicht, den Bereich der fairen Berwertungen zu erreichen. So, wie auf einem zyklischen Hoch preislich nach oben übertrieben wird, kommt es im Abschwung, auch getrieben durch Notverkäufe, zu teils deutlichen Übertreibungen nach unten. Insofern halten wir es für eine gewagte Annahme, daß das ausgerechnet in diesem Zyklus ausbleiben soll.

Zweitens erwartet Savills schon in Kürze ein Ansteigen der Büromieten. Jedoch trifft ein durch Projektfertigstellungen immer noch steigendes Angebot von Top-Flächen auf eine Nachfrage, die man angesichts grundsätzlicher Trendumkehrungen wie z.B. Homeoffice und durchaus verhaltener Konjunkturprognosen kaum als prospektiv überschäumend bezeichnen kann.

Drittens unterstellt Savills, daß der Zinshöhepunkt in Europa bereits in H1 2023 mit 4 % erreicht wird und daß die Zinsen dann wieder auf 3 % in 2024 und 2 % in 2025 fallen würden. Das wiederum werde die Investoren-Nachfrage in kurzer Zeit wieder neu entfachen. Auch dieses Zins-Szenario ist unseres Erachtens eine eher gewagte Annahme. Weder glauben wir, daß schon in einigen Wochen das Ende der Fahnenstange erreicht ist, noch erwarten wir, daß sich die Zinsen schon kurz nach dem Zinshoch wieder deutlich zurückbilden werden.

Weiteres Ungemach droht unserer Ansicht nach mittelfristig durch die Staatsverschuldung. Die goldenen Jahre der Gratis-Schulden sind für die europäischen Nationalstaaten vorbei. Natürlich fressen sich steigende Zinsen wegen der teils ultralangen Anleihelaufzeiten nur langsam in die einzelnen Haushalte hinein. Aber wenn es nicht sehr bald zu einer sehr deutlichen erneuten Zinswende kommt (und wir sehen nicht, warum das passieren sollte), werden mindestens die am höchsten verschuldeten Staaten auf mittlere Sicht über 5 % ihrer Gesamthaushalte für Zinszahlungen aufzuwenden haben. Das wird nicht ohne Friktionen, möglicher Weise auch soziale Unruhen abgehen.

Die Schlußfolgerung von Savills, das Schlimmste läge bereits hinter uns, teilen wir deshalb nicht. Nach unserer Einschätzung sind Investoren gut beraten, an den Gewerbeimmobilien-Märkten noch in den nächsten ein, zwei Jahren äußerste Vorsicht walten zu lassen. Denn auch hier gilt schließlich die alte Börsenweisheit: Never try to catch a falling knife.

Damit ist der Verfasser dieser Zeilen endlich an dem Punkt, aus dem reichen Fundus sinnloser Sprüche, die vor mehr als 40 Jahren sein Büro zierten, die Überschrift zu vervollständigen:

Letztes Jahr standen wir vor dem Abgrund. Dieses Jahr gilt es, einen großen Schritt nach vorn zu machen.

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