Nichts Neues unter der Sonne

Die Elektrolette ist ein 760 kg schwerer Zweisitzer mit 2,2-kw-Elektromotoren an jedem Vorderrad. Rekuperation beim Bremsen ist natürlich selbstverständlich. Der 360 kg schwere Fulmen-Batteriesatz verleiht dem Fahrzeug eine Reichweite von 105 km. Er kann zum Wechseln einfach nach hinten herausgezogen werden. Was übrigens der chinesische Hersteller Nio bei seinem kürzlich neu erschienenen Elektroauto als großartige Neuheit anpreist (nur daß der Batteriesatz da seitlich rausgezogen wird). Wenige Monate nach der Elektrolette kommt als Weiterentwicklung außerdem ein Automobil mit Hybridantrieb mit einem Richard-Brasier-Motor auf den Markt.

Wer von der verehrten Leserschaft weiß, was die eigentliche Profession des Verfassers dieser Zeilen ist, der wird bereits ahnen: Zusammen mit der besten Ehefrau von allen und dem Kollegen Vladimir Gutowski arbeitet der Kerl schon wieder an einem Auktionskatalog. Jawohl, das tut er. Auf der 123. Auktion der Freunde Historischer Wertpapiere am 4. März 2023 wird nämlich eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen von Automobil-Wertpapieren zur Versteigerung kommen. Das will natürlich ordentlich vorbereitet sein, und es ist, nebenbei gesagt, auch ein echtes Vergnügen, all die schönen Wertpapiere für den Auktionskatalog zu bearbeiten und ihre Geschichte zu recherchieren.

Unglaublich, was man da so alles lernt. Der Ingenieur Henry Royce (1863-1933) baute eigentlich Elektroanlagen. 1902 kaufte er sich in Frankreich einen gebrauchten Decauville 10hp. Doch als er den Wagen in Manchester vom Bahnhof abholte, kriegte er ihn nicht einmal gestartet. Auch sonst war Royce mit der Verabeitungsqualität des Decauville (der damals sogar vom Automobilwerk Eisenach in Lizenz nachgebaut wurde) überhaupt nicht zufrieden.

Henry Royce wollte einfach nur zeigen, dass man das besser machen kann. Kurzerhand bat er den Aufsichtsrat seiner Elektrofirma um Erlaubnis, mal probehalber drei Prototypen eines Automobils bauen zu dürfen. Der Royce 10hp absolvierte problemlos seine erste Testfahrt und wurde danach von Charles Stewart Rolls (1877-1910) probegefahren, damals der größte englische Autohändler und -importeur seiner Zeit. Rolls war begeistert, per Handschlag einigte er sich mit Royce auf eine Partnerschaft. Der Rest der Geschichte wird als bekannt vorausgesetzt.

Charles Stewart Rolls war außerdem ein begeisterter Flugsportler und Präsident mehrerer Aero-Clubs. Als zweiter Brite überhaupt hatte er vom Royal Aero Club eine Fluglizenz erhalten. Das erklärt übrigens, warum das zweite und bis heute bedeutendere Standbein von Rolls-Royce schon vor dem 1. Weltkrieg der Bau von Flugzeugtriebwerken wurde.

Einen passenderen Tod hätte er da gar nicht finden können: Am 12.7.1910 nahm Charles Stewart Rolls an einem Präzisionsflugwettbewerb am Stadtrand von Bornemouth teil. Dabei überschätzte er seine eigenen und die Möglichkeiten seiner Maschine, einem Lizenznachbau der Gebr. Wright. Auf dem Rücken fliegend verlor er die Kontrolle und prallte aus 40 Fuß Höhe auf den Boden. Im Alter von nur 32 Jahren starb Charles Stewart Rolls als erster Brite überhaupt bei einem Flugzeugabsturz. Sein Partner Henry Royce übrigens soll, obwohl er weiter in großem Stil Flugzeugmotoren baute, sein ganzes Leben lang nicht ein einziges Mal an Bord eines Flugzeugs gegangen sein. Dafür wurde er dann ja auch 70 Jahre alt.

Ach übrigens, das hätte ich jetzt doch fast vergessen zu bemerken: Die im ersten Absatz beschriebene Elektrolette und das Hybridauto stellte Louis Antoine Kriéger (1868-1951) auf dem Pariser Automobilsalon der Öffentlichkeit vor, und zwar im Jahr 1903. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

P.S.: Auf der A 39 beim Kreuz Wolfsburg und auf Autobahn-Abschnitten in Schleswig-Holstein werden wohl den meisten Leser/innen schon (bis heute offenbar noch nicht in Gebrauch befindliche) Leit- und Oberleitungssysteme für Lastwagen aufgefallen sein. Mein Tip: Googeln Sie mal (wie angegeben in Anführungsstrichen) „Rotabili Avantreni Motori“. Gehen Sie auf „Bilder“, und Sie werden echt Augen machen, was Sie da alles zu sehen bekommen. Nicht nur Düsseldorfer Müllfahrzeuge mit Elektroantrieb vor mehr als einem Jahrhundert. Sondern auch Oberleitungs-Lastwagen System Cantono-Frigerio, die der italienische Ingenieur Eugenio Cantono bereits 1905 auf der Strecke Pescara-Castellamare fahren ließ. Die dort an erster Stelle abgebildete Historische Aktie seiner Firma FRAM (Scripomuseum), noch weit seltener als die berühmte „Blaue Mauritius“, wird bei uns im März 2023 übrigens auch versteigert werden.

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