Ruhmreicher Zweiter
„Fake News“ sind keine Erfindung der Neuzeit. Das System der Fake News wurde vor weit mehr als einem halben Jahrhundert in Moskau erfunden. Wer Nachrichten aus Moskau verstehen und deuten will, der muß sich halt dessen bewußt sein, daß aus einer mehr oder weniger wahren Tatsache regelmäßig die falschen Schlußfolgerungen im Sinne der Moskauer Sicht der Dinge vermittelt werden.
Wer von den geneigten Leser/innen, so wie der Verfasser dieser Zeilen, alt genug ist, um sich daran noch zu erinnern, dem fällt als besonders treffende Illustration dieser speziellen Moskauer Eigenart auch gleich der alte Witz ein:
US-Präsident Richard Nixon ist 1972 zu Besuch in Moskau. Ein lauer Mai-Abend, Nixon und Breschnew gönnen sich vor der Nachtruhe noch ein paar „Sto Gram“ und kommen dann wodkaseelig auf die Schnapsidee: Lass‘ uns doch morgen vormittag im Allunionspark einen kleinen Wettlauf machen. Gesagt, getan. Tags darauf titelt die Prawda: „Wettrennen zwischen dem Generalsekretär und dem US-Präsidenten! Unser ruhmreicher Generalsekretär wurde Zweiter, während Nixon nur als Vorletzter durchs Ziel ging!“
Nur colorandum causa möchte der Verfasser dieser Zeilen noch bemerken, dass Leonid Breschnew 1906 in Kamenskoje in der Ukraine das Licht der Welt erblickte und sich wahrscheinlich gerade im Grab umdreht angesichts dessen, was seine politischen Erben dort momentan veranstalten.
Das mit dem ruhmreichen Zweiten lässt sich übrigens nahezu beliebig fortsetzen. Selbst im Vergleich zur Wirtschaftskraft des eher kleinen Italien (dessen Ambitionen, die Welt zu beherrschen, nun schon annähernd zwei Jahrtausende zurückliegen) macht Russland mit einem Bruttosozialprodukt von 1,48 Billionen Dollar nur den ruhmreichen Zweiten. Italien schafft mit 1,88 Billionen Dollar (Zahlen jeweils von 2020) deutlich mehr. Anders gesagt: Selbst ohne Großbritannien gibt es allein in der EU vier Länder, die Russland mit ihrer Wirtschaftskraft jedes einzelne für sich mühelos überflügeln.
Viel zu lange hat der Westen dieser Tatsache nicht die verdiente Beachtung geschenkt: Schon vor dem Zerfall der Sowjetunion war Russland nur noch ein Scheinriese. Wenn der Krieg in der Ukraine zu Ende sein wird, ganz gleich mit welchem Ausgang, dann wird mit Putin niemand mehr reden wollen. Auch und gerade seine chinesischen Scheinfreunde nicht, wenn sie vor der Frage stehen, mit wem sie ihre Wirtschaftsbeziehungen ungestört fortsetzen möchten.
Noch einmal colorandum causa bemüht der Verfasser dieser Zeilen ein weiteres Mal die Geschichte: Nach dem Abschuß eines südkoreanischen Verkehrsflugzeuges durch die Sowjets im Jahr 1980 und dem anschließenden Boykott des Westens (der harmlos war im Vergleich zu heutigen Kalibern) dauerte das politische Überleben des Leonid Breschnew gerade noch zwei Jahre.
Wie das heute im Handelsblatt-Interview der frühere US-Außenamts-Stratege Eliot Cohen so treffend ausdrückte: „Putin hat anfangs ein schwaches Blatt recht erfolgreich gespielt – jetzt nicht mehr.“
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