Schneller. Höher. Stärker.

„Ortsveränderungen mittels irgend einer Art von Dampfmaschine sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, „delirium furiosum“ genannt, hervorzurufen. Selbst zugegeben, dass Reisende sich freiwillig der Gefahr aussetzen, muß der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen, denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, um diese schreckliche Krankheit zu erzeugen. Es ist daher unumgänglich nötig, dass eine Schranke, wenigstens sechs Fuß hoch, auf beiden Seiten der Bahn errichtet werde.“

Das ist angeblich die zentrale Aussage in einem um 1835 vom Königlich Bayerischen Medizinalkollegium erstellten Gutachten über die Gesundheitsrisiken eines Geschwindigkeitsrausches bei 30 km/h. Ähnlich kritisch sah man damals aber auch das Fahrrad, welches auf der 1817 vom badischen Forstbeamten Karl von Drais erfundenen „Laufmaschine“ aufbaute: Besorgte Zeitgenossen befürchteten „Deformierungen des Gesichts“ durch den Fahrtwind.

Nun ist der Verfasser dieser Zeilen, wie die geneigte Leserschaft weiß, schon seit langem ein notorischer Fortschrittsfeind und Wachstumsgegner. Aus sehr wohlüberlegten Gründen übrigens, denn wenn die Menschheit so weitermacht wie bisher, kommt unweigerlich ein Lieblingsmotto aus seinen jungen Berufsjahren im Maschinenbau zum Tragen: „Letztes Jahr standen wir vor dem Abgrund. Dieses Jahr gilt es einen großen Schritt nach vorne zu machen.“

Die ersten beiden Absätze sollen der geneigten Leserschaft einfach nur als etwas selbstironischer Beleg dienen, dass der Verfasser dieser Zeilen seine überaus kritische Einstellung zum landläufigen „citius, altius, fortius“ natürlich regelmäßig selbst hinterfragt. Und, wussten Sie das schon (ich nämlich nicht), übrigens ist „citius, altius, fortius“ auch das ganz offizielle Motto der Olympischen Spiele, nur 2021 etwas weichgespült und um den Zusatz „- gemeinsam“ ergänzt.

Schneller. Höher. Stärker. Aber bis wohin denn bloß? Gibt es da ein sinnvoller Weise zu erreichendes, die Sache auch begrenzendes Ziel, oder ist immer schneller werden einfach nur unreflektierter Selbstzweck? Hat sich irgendein Protagonist ungezügelten Wachstums darüber jemals Gedanken gemacht? An dieser Stelle kommen dann die Skeptiker in’s Spiel. Und damit für die geneigte Leserschaft zur Abwechslung mal eine Buchempfehlung – wozu eine coronabedingte Quarantäne über Pfingsten doch so alles gut ist …

Das Buch HYBRIS von Meinhard Miegel sollten Sie unbedingt mal gelesen haben. Es handelt von Größenwahn und Selbstüberschätzung des Menschen. „Miegels Antworten sind radikal und äußerst bedenkenswert,“ urteilt DIE WELT. Sollten Sie sich tatsächlich dem Genuß hingeben, dieses Buch zu lesen, dann werden Sie anschließend über einen besonderen Umstand ebenso wie ich höchst erstaunt sein: Der Umstand betrifft die Frage, wer mir vor einiger Zeit dieses Buch mit wärmster Leseempfehlung geschenkt hat. Das war mein langjähriger fast väterlicher Freund Dr. Werner P. Schmidt (1932-2020), bis zu seinem endgültigen Zerwürfnis mit Ferdinand Piech stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG. Ausgerechnet aus dieser Ecke ein radikaler Bruch mit allen Wachstumsideologien und damit letzthin die Einsicht, sein Leben lang an die falschen Götter geglaubt zu haben – alle Achtung …

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