Quadratisch. Praktisch. Blut.

Nach den furchtbaren Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine macht sich Fassungslosigkeit breit angesichts der Tatsache, dass einige namhafte deutsche Firmen weiter ganz unbeeindruckt an ihrem Russland-Geschäft festhalten.

Und wirklich keine Worte findet man mehr angesichts der Haltung der Alfred Ritter GmbH & Co. KG. Diese erbärmliche Süßigkeiten-Klitsche hat in Russland nicht einmal eine eigene Produktionsstätte, macht dort aber fast 10 % ihres Umsatzes. Nun gut, möchte man meinen, was Ritter produziert schädigt sowieso nachhaltig die Zähne und ganz allgemein die Gesundheit, auch ohne die brandneue Sorte Granat-Splitter, und das gönnt man den Russen im Moment ja auch. Allerdings: Angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung des russischen Mannes von (2019) 68,2 Jahren muß man davon ausgehen, dass der Durchschnittsrusse bereits in’s Gras gebissen hat, ehe die Ritter-Sport-Produkte seine Gesundheit überhaupt ernsthaft gefährden konnten.

Da musste sich ein gewisser Andreas Ronken, seines Zeichens CEO der Alfred Ritter GmbH & Co. KG, dann doch eine andere Begründung einfallen lassen, warum seine Firma unbeirrt am Russland-Geschäft festhält. Die konnte man dann heute im Handelsblatt nachlesen. Die Fa. Ritter, so ließ man sich zitieren, habe doch so viele Einkaufskontrakte mit Kleinbauern für nachhaltig produzierten Kakao, und die müsse man ja erfüllen. Und wenn man diesen Kakao nicht mehr in die Schokolade für den russischen Markt reinrühren könne, dann wisse man wirklich nicht, wo man den zu viel eingekauften Kakao lagern solle – das sei nun mal ein unlösbares Problem, und deshalb sei Ritter Mord in einer ganz ausweglosen Notlage und förmlich gezwungen, weiterhin Geschäfte mit Putin zu machen.

Nebenbei bemerkt, Sie müssen sich diesen Herrn Ronken (zuvor im Mars-Konzern auf Gewissenlosigkeit getrimmt worden) nur mal im Internet bildlich betrachten. Vielleicht irrt der Verfasser dieser Zeilen ja, aber es könnte bei diesem Gesicht tatsächlich doch der Eindruck entstehen, der Mann sei einfach nur unheilbar Bonus-geil.

Also, langer Rede kurzer Sinn: Der Verfasser dieser Zeilen hat mit der besten Ehefrau von allen beschlossen, auf Produkte von Ritter, Henkel & Co. bis auf weiteres zu verzichten und auch bei keiner Dependance des Metro-Konzerns mehr einzukaufen. Auch Erzeugnisse der Molkerei Ehrmann („Keiner greift mich mehr an“) und der Privatkäserei Hochland kommen nicht mehr in den Einkaufskorb. Unsere Familie würde es übrigens begrüßen, wenn der/die eine oder andere geneigte Leser(in) dieser Zeilen das nachahmenswert fände.

In seiner Eigenschaft als Vorstand der CS Realwerte AG jedenfalls schämt sich der Verfasser dieser Zeilen in Grund und Boden, dass es in Deutschland immer noch eine gewisse Zahl Manager/innen gibt, denen das Füllen ihrer eigenen Taschen wesentlich wichtiger ist als Moral und Anstand. Und man kann wirklich nur hoffen, dass die Aufsichtsratsvorsitzende Bagel-Trah auf der heutigen Hauptversammlung der Henkel KGaA von Aktionärsvertretern mal eine richtige Abreibung bekommt – wenigstens eine verbale Abreibung jedenfalls, denn es ist ja leider wieder nur eine virtuelle Hauptversammlung, auf der sich das Management feige hinter der Datenleitung verstecken kann.

Ruhmreicher Zweiter

„Fake News“ sind keine Erfindung der Neuzeit. Das System der Fake News wurde vor weit mehr als einem halben Jahrhundert in Moskau erfunden. Wer Nachrichten aus Moskau verstehen und deuten will, der muß sich halt dessen bewußt sein, daß aus einer mehr oder weniger wahren Tatsache regelmäßig die falschen Schlußfolgerungen im Sinne der Moskauer Sicht der Dinge vermittelt werden.

Wer von den geneigten Leser/innen, so wie der Verfasser dieser Zeilen, alt genug ist, um sich daran noch zu erinnern, dem fällt als besonders treffende Illustration dieser speziellen Moskauer Eigenart auch gleich der alte Witz ein:

US-Präsident Richard Nixon ist 1972 zu Besuch in Moskau. Ein lauer Mai-Abend, Nixon und Breschnew gönnen sich vor der Nachtruhe noch ein paar „Sto Gram“ und kommen dann wodkaseelig auf die Schnapsidee: Lass‘ uns doch morgen vormittag im Allunionspark einen kleinen Wettlauf machen. Gesagt, getan. Tags darauf titelt die Prawda: „Wettrennen zwischen dem Generalsekretär und dem US-Präsidenten! Unser ruhmreicher Generalsekretär wurde Zweiter, während Nixon nur als Vorletzter durchs Ziel ging!“

Nur colorandum causa möchte der Verfasser dieser Zeilen noch bemerken, dass Leonid Breschnew 1906 in Kamenskoje in der Ukraine das Licht der Welt erblickte und sich wahrscheinlich gerade im Grab umdreht angesichts dessen, was seine politischen Erben dort momentan veranstalten.

Das mit dem ruhmreichen Zweiten lässt sich übrigens nahezu beliebig fortsetzen. Selbst im Vergleich zur Wirtschaftskraft des eher kleinen Italien (dessen Ambitionen, die Welt zu beherrschen, nun schon annähernd zwei Jahrtausende zurückliegen) macht Russland mit einem Bruttosozialprodukt von 1,48 Billionen Dollar nur den ruhmreichen Zweiten. Italien schafft mit 1,88 Billionen Dollar (Zahlen jeweils von 2020) deutlich mehr. Anders gesagt: Selbst ohne Großbritannien gibt es allein in der EU vier Länder, die Russland mit ihrer Wirtschaftskraft jedes einzelne für sich mühelos überflügeln.

Viel zu lange hat der Westen dieser Tatsache nicht die verdiente Beachtung geschenkt: Schon vor dem Zerfall der Sowjetunion war Russland nur noch ein Scheinriese. Wenn der Krieg in der Ukraine zu Ende sein wird, ganz gleich mit welchem Ausgang, dann wird mit Putin niemand mehr reden wollen. Auch und gerade seine chinesischen Scheinfreunde nicht, wenn sie vor der Frage stehen, mit wem sie ihre Wirtschaftsbeziehungen ungestört fortsetzen möchten.

Noch einmal colorandum causa bemüht der Verfasser dieser Zeilen ein weiteres Mal die Geschichte: Nach dem Abschuß eines südkoreanischen Verkehrsflugzeuges durch die Sowjets im Jahr 1980 und dem anschließenden Boykott des Westens (der harmlos war im Vergleich zu heutigen Kalibern) dauerte das politische Überleben des Leonid Breschnew gerade noch zwei Jahre.

Wie das heute im Handelsblatt-Interview der frühere US-Außenamts-Stratege Eliot Cohen so treffend ausdrückte: „Putin hat anfangs ein schwaches Blatt recht erfolgreich gespielt – jetzt nicht mehr.“

Geschichte und Fakten

Ende letzten Jahres hatte der Verfasser dieser Zeilen das Vergnügen, für einen Auktionskatalog der Freunde Historischer Wertpapiere die Geschichte der South Manchurian Railway Company zu recherchieren. Erstaunliches kam dabei zu Tage, Fakten, die heute kaum noch jemand kennt. Um das mal in einer Zahl zusammenzufassen: Die South Manchurian Railway Company, eine Aktiengesellschaft japanischen Rechts, war nicht nur in der Mandschurei tätig, sie war mit Aktivitäten in allen Wirtschafts- und kulturellen Bereichen praktisch die Mandschurei. Allein diese Aktiengesellschaft generierte damals mehr als ein Viertel des gesamten japanischen Steueraufkommens.

Die Mandschurei umfasst mehr oder weniger den gesamten Nordosten Chinas, ein Gebiet grösser als ganz Westeuropa. Bis 1905 war sie in das russische (äußere Mandschurei) und das japanische (innere Mandschurei) Einflußgebiet geteilt, letzteres reichte im Süden bis fast an Peking heran. Ab 1900 versuchte das russische Zarenreich, die ganze Mandschurei unter seine Kontrolle zu bringen, was 1904/05 zum russisch-japanischen Krieg führte. Diesen Krieg verloren die Russen, der Sieger Japan beherrschte in den Folgejahren die ganze Mandschurei. Formell wurde die Mandschurei 1932 ein von Japan abhängiger Marionetten-Staat, Mandschukuo genannt, mit Puyi (der als Kleinkind 1908-12 der letzte Kaiser von China gewesen war) zunächst als Präsidenten, ab 1936 dann Kaiser von Mandschukuo.

Zunächst schien die japanische Herrschaft über Nordchina auf unabsehbare Zeit zementiert: Noch 1941 schloß Stalin zum Entsetzen der chinesischen Kommunisten mit dem früheren Kriegsgegner Japan einen Friedens- und Freundschaftsvertrag. Aber was sind Verträge mit Moskau schon wert? Der 2. Weltkrieg war in Europa bereits zu Ende, Japan hatte im Pazifikraum kapituliert und führte Friedensverhandlungen, da erklärte Stalin trotz des gerade einmal vier Jahre zuvor geschlossenen Friedens- und Freundschaftsvertrages am 8. August 1945, zwei Tage nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima, Japan den Krieg. Innerhalb weniger Wochen überrollten die sowjetischen Divisionen die Mandschurei.

Anschließend demontierten die Sowjets sämtliche von den Japanern errichteten Rüstungs- und Industrieanlagen in der Mandschurei und schraubten sogar die Schienen der South Manchurian Railway mit ihrem 12.000 km umfassenden Streckennetz ab. Alles wurde nach Sibirien geschafft, und im Mai 1946 übergaben die Sowjets den chinesischen Kommunisten unter Mao eine von ihnen zerstörte und vollkommen ausgeplünderte Mandschurei.

Ähnlichkeiten mit aktuellen Ereignissen wären natürlich rein zufällig …

Und, na ja, komplett bekamen die Chinesen die Mandschurei auch nicht zurück. Die Äußere Mandschurei, die bis 1905 schon einmal von Rußland einverleibt gewesen war, behielt Moskau und machte sie zu einem Teil der Sowjetunion. Seitdem sind Amur und Ussuri die Grenze zwischen Rußland und China. Sie erinnern sich dunkel? Am Amur kam es vor längerer Zeit auch mal zu Rangeleien zwischen sowjetischen und chinesischen Grenzsoldaten? Seien sie gewiß: Darüber schreibt natürlich heute keine Zeitung, aber in Peking wird es möglicher Weise schon den ein oder anderen geben, der meint, dass man mit Russland wegen der Annektion der Äußeren Mandschurei durchaus noch eine Rechnung offen hat.

Alles nur so Gedanken eines Historikers – doch es kommt derselbe schon in’s Grübeln, denn Historiker schauen auch gern mal auf Landkarten. Und dieser Blick ergibt folgendes:

Wenn es die NATO-Staaten Norwegen und Dänemark nicht wollen, dann fährt durch ihre Hoheitsgewässer im Skagerrak kein russisches Schiff mehr in die Ostsee rein oder aus der Ostsee raus.

Wenn es die NATO-Staaten Türkei (und Griechenland) nicht wollen, dann fährt auch in’s Schwarze Meer kein russisches Schiff mehr rein oder raus.

Aus eigener Anschauung weiß der Verfasser dieser Zeilen, daß wir vor den Atomeisbrechern des Herrn Putin keine Angst haben müssen (sind alle 100 %ig sicher, versicherte man uns hoch im Norden vor gerade mal drei Jahren, weil mit Siemens-Reaktoren bestückt). Mit diesen Atomeisbrechern kann Herr Putin zu jeder Jahreszeit die Nordostpassage befahrbar halten. Aber was nützt es ihm? Auf tausenden von Kilometern könnte er in der Barents-, Kara-, Ostsibirischen und Tschuktschen-See gerade mal Zodiac-Anlandungen unternehmen, sieht man von den wenigen speziellen Industriehäfen wie z.B. in Norilsk ab.

Also, wenn die Ostsee und das Schwarze Meer dicht sind, dann bleiben Herrn Putin noch: Murmansk und Wladiwostok. Wirklich kein Ass im Ärmel für ein Land mit 37.653 km Küstenlinie. Beide Häfen kennt der Verfasser dieser Zeilen aus eigener Anschauung. Der Hafen von Murmansk verhält sich, um es mal so auszudrücken, in seiner Imposanz reziprok proportional zum beeindruckenden 35 m hohen Aljoscha-Soldaten-Monument, das hoch über der Stadt über die Bucht wacht. Und bei Wladiwostok lassen wir einfach wieder Zahlen sprechen: Über den Hafen von Wladiwostok werden jährlich 7 Mio. t Seegüter umgeschlagen. Über den größten europäischen Hafen Rotterdam rd. 450 Mio. t, und über Hamburg immerhin auch 126 Mio. t.

Um an der Stelle dann noch mal auf China zurückzukommen: Wenn Xi doch ein bißchen nachtragender ist, als es momentan so den Eindruck macht, dann hat sich das mit Wladiwostok ohnehin erledigt. Nämlich dann, wenn sich Herr Xi die Putin’sche Auffassung von der Legitimität der Zurückholung angestammter Territorien zu eigen macht. Den Marinestützpunkt errichtete nämlich 1860 der russische Zar Alexander II., zwei Jahre nachdem Rußland den Niedergang der chinesischen Qing-Dynastie erbarmungslos ausgenutzt und den Chinesen im Vertrag von Aigun die Äussere Mandschurei abgenötigt hatte. Freiwillig hatte China diesen Vertrag keineswegs unterschrieben.

Mal angenommen, Polen würde sich mit seinem Vorschlag durchsetzen, sämtliche Handelsbeziehungen zu Russland abzubrechen? Die, die in Polen ein Handelsembargo befürworten, haben ja wahrscheinlich auch schon mal auf die Landkarte geschaut. Ob das im Kreml auch schon jeder gemacht hat, da kommen dem Verfasser dieser Zeilen jetzt allerdings echte Zweifel …

Passt

Bereits am 3. Januar hatten wir an dieser Stelle über die Zahlen des Geschäftsjahres 2021 berichtet. Zeitgleich hatten unsere Aktionäre auch einen Aktionärsbrief mit der vorläufigen Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung für 2021 in der Post.

Nur der Ordnung halber informieren wir darüber, dass der uns heute von PKF FASSELT übermittelte Entwurf des Abschlußerstellungsberichtes 2021 der CS Realwerte AG zahlenmäßig nicht von den von uns als vorläufig mitgeteilten Werten abweicht. Es gibt lediglich Umgliederungen von zwei größeren Positionen (in der Bilanz wird der Betrag der von der letztjährigen Hauptversammlung beschlossenen Kapitalherabsetzung nunmehr als sonstige Verbindlichkeit ausgewiesen, in der G+V erscheint die Wertaufholung des KanAm grundinvest nicht als Finanzertrag, sondern unter den sonstigen Erträgen).

Bereits auf seiner morgigen Sitzung (am 10.3.) wird der Aufsichtsrat den Jahresabschluß feststellen.

Die diesjährige Hauptversammlung ist unverändert am 26.8. geplant. Die Einladungsunterlagen werden unseren Aktionären im Juli 2022 zugehen.

Die andere Seite der Medaille

Moskau vor 40 Jahren. Damals, als der Verfasser dieser Zeilen noch etwas Anständiges arbeitete, war er als Leiter der Finanzabteilung eines bedeutenden Maschinen- und Anlagenbauers unter anderem für die Exportfinanzierungen zuständig. Und die musste man bei einem größeren Geschäft mit der UdSSR, im konkreten Fall dem Bau einer Getreidesiloanlage im Hafen von Tallinn, immer gleich mit im Angebot haben, sonst brauchte man gar nicht erst antreten.

Solche Verhandlungen waren praktisch ein kleiner Urlaub. Man wusste nie, wann die Gegenseite weiterzuverhandeln gedachte – aber wenn, dann wurde man binnen 24 h erwartet. In der heißen Phase hieß das also, wochenlang in Hab-Acht-Stellung vor Ort zu sein. Viele Tage lang passierte gar nichts, man schaute sich in Moskau alles mögliche an, bummelte über die Wochenmärkte und kaufte, was die Saison gerade anbot, um es dann abends in der Wohnküche der Moskauer Repräsentanz zu bruzzeln. Echtes Teamwork: Ein Geschäftsführer schälte Kartoffeln, der Dolmetscher schnitt Zwiebeln und Kräuter, der Verfasser dieser Zeilen putzte „griby“, also Pilze. Der Vertriebsmann durfte nach dem Essen den Abwasch machen.

Die Wochenenden hatten auch ihren Reiz: Auf einer menschenleeren Straße durch einen endlos erscheinenden menschenleeren Wald, aber mit bewaffneten Streckenposten alle paar hundert Meter, fuhr man in der warmen Jahreszeit üblicherweise mit der Familie des deutschen oder des Schweizer Botschafters zum Faulenzen und Grillen an den außerhalb von Moskau gelegenen „Diplomatenstrand“ an der Moskwa.

Gewohnt wurde im Hotel, in dessen Speisesaal endlos lange Tische aufgereiht waren. Man setzte sich in bunter Reihe, wo gerade Platz war. Eines Tages kamen wir also einem Kriegsveteranen gegenüber zu sitzen, an seiner gebügelten Uniformjacke mit allen Orden aus der Stalinzeit zweifelsfrei als solcher zu erkennen. Als unser Gegenüber bemerkte, dass wir Deutsche waren, stand er wortlos auf, nahm sein volles Rotweinglas und schüttete es unserem Dolmetscher über den Kopf. Wir waren so geplättet, daß niemand etwas sagte, niemand versuchte sich zu wehren. Welche Erinnerungen mochte dieser Mann an den Krieg und die Deutschen bloß haben, daß er sich zu so einem Verhalten hinreißen ließ?

Diese Situation erinnernd kann der Verfasser dieser Zeilen kein großes Bedauern empfinden für rußlandstämmige Menschen, die die Gastfreundschaft und die Freiheiten unseres Landes bisher gern genossen haben und die jetzt gelegentlichen Anfeindungen ausgesetzt sind. So ist das halt, wenn sich zwei Völker noch nicht oder nicht mehr besonders gern haben.

Szenenwechsel. Moskau vor 15 Jahren. Gespräche mit einem früheren Mitglied der Regierung Jelzin erforderten einen mehrtägigen Aufenthalt in Moskau. Mit dem üblichen Drumherum, also nachmittags Sightseeing mit der Entourage und abends Festbankett. Bei der Stadtbesichtigung stand der Verfasser dieser Zeilen plötzlich vor einem alten hutzeligen Mütterchen, das am Eingang einer U-Bahn-Station Sträuße mit Maiglöckchen feilbot. Die bittere Armut platzte der alten Frau aus allen Knopflöchern. Das dauerte den Verfasser dieser Zeilen so sehr, daß er spontan beschloß, das mit der besten Ehefrau von allen geteilte Hotelzimmer mit einem Maiglöckchenstrauß zu verschönern. Was die alte Frau haben wollte, waren umgerechnet nur Pfennige. Der ihr in die Hand gedrückte Rubel-Schein war das Zig-fache des Preises, den sie genannt hatte. Das ungläubige Gesicht, die unzähligen Bekreuzigungen, die dem Verfasser dieser Zeilen auf russisch hinterhergerufenen Segenswünsche – geradezu herzzerreißend.

Das ist die andere Seite der Medaille. In Rußland wird der unglückselige Krieg des Herrn Kaputin wieder besonders die Menschen treffen, die schon bisher zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel hatten. Mit diesen Menschen müssen wir gerade auch jetzt, bei allem verständlichen Groll auf Russlands Eliten, trotzdem Mitleid haben und dürfen sie nicht vergessen.

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