Geschichte und Fakten

Ende letzten Jahres hatte der Verfasser dieser Zeilen das Vergnügen, für einen Auktionskatalog der Freunde Historischer Wertpapiere die Geschichte der South Manchurian Railway Company zu recherchieren. Erstaunliches kam dabei zu Tage, Fakten, die heute kaum noch jemand kennt. Um das mal in einer Zahl zusammenzufassen: Die South Manchurian Railway Company, eine Aktiengesellschaft japanischen Rechts, war nicht nur in der Mandschurei tätig, sie war mit Aktivitäten in allen Wirtschafts- und kulturellen Bereichen praktisch die Mandschurei. Allein diese Aktiengesellschaft generierte damals mehr als ein Viertel des gesamten japanischen Steueraufkommens.

Die Mandschurei umfasst mehr oder weniger den gesamten Nordosten Chinas, ein Gebiet grösser als ganz Westeuropa. Bis 1905 war sie in das russische (äußere Mandschurei) und das japanische (innere Mandschurei) Einflußgebiet geteilt, letzteres reichte im Süden bis fast an Peking heran. Ab 1900 versuchte das russische Zarenreich, die ganze Mandschurei unter seine Kontrolle zu bringen, was 1904/05 zum russisch-japanischen Krieg führte. Diesen Krieg verloren die Russen, der Sieger Japan beherrschte in den Folgejahren die ganze Mandschurei. Formell wurde die Mandschurei 1932 ein von Japan abhängiger Marionetten-Staat, Mandschukuo genannt, mit Puyi (der als Kleinkind 1908-12 der letzte Kaiser von China gewesen war) zunächst als Präsidenten, ab 1936 dann Kaiser von Mandschukuo.

Zunächst schien die japanische Herrschaft über Nordchina auf unabsehbare Zeit zementiert: Noch 1941 schloß Stalin zum Entsetzen der chinesischen Kommunisten mit dem früheren Kriegsgegner Japan einen Friedens- und Freundschaftsvertrag. Aber was sind Verträge mit Moskau schon wert? Der 2. Weltkrieg war in Europa bereits zu Ende, Japan hatte im Pazifikraum kapituliert und führte Friedensverhandlungen, da erklärte Stalin trotz des gerade einmal vier Jahre zuvor geschlossenen Friedens- und Freundschaftsvertrages am 8. August 1945, zwei Tage nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima, Japan den Krieg. Innerhalb weniger Wochen überrollten die sowjetischen Divisionen die Mandschurei.

Anschließend demontierten die Sowjets sämtliche von den Japanern errichteten Rüstungs- und Industrieanlagen in der Mandschurei und schraubten sogar die Schienen der South Manchurian Railway mit ihrem 12.000 km umfassenden Streckennetz ab. Alles wurde nach Sibirien geschafft, und im Mai 1946 übergaben die Sowjets den chinesischen Kommunisten unter Mao eine von ihnen zerstörte und vollkommen ausgeplünderte Mandschurei.

Ähnlichkeiten mit aktuellen Ereignissen wären natürlich rein zufällig …

Und, na ja, komplett bekamen die Chinesen die Mandschurei auch nicht zurück. Die Äußere Mandschurei, die bis 1905 schon einmal von Rußland einverleibt gewesen war, behielt Moskau und machte sie zu einem Teil der Sowjetunion. Seitdem sind Amur und Ussuri die Grenze zwischen Rußland und China. Sie erinnern sich dunkel? Am Amur kam es vor längerer Zeit auch mal zu Rangeleien zwischen sowjetischen und chinesischen Grenzsoldaten? Seien sie gewiß: Darüber schreibt natürlich heute keine Zeitung, aber in Peking wird es möglicher Weise schon den ein oder anderen geben, der meint, dass man mit Russland wegen der Annektion der Äußeren Mandschurei durchaus noch eine Rechnung offen hat.

Alles nur so Gedanken eines Historikers – doch es kommt derselbe schon in’s Grübeln, denn Historiker schauen auch gern mal auf Landkarten. Und dieser Blick ergibt folgendes:

Wenn es die NATO-Staaten Norwegen und Dänemark nicht wollen, dann fährt durch ihre Hoheitsgewässer im Skagerrak kein russisches Schiff mehr in die Ostsee rein oder aus der Ostsee raus.

Wenn es die NATO-Staaten Türkei (und Griechenland) nicht wollen, dann fährt auch in’s Schwarze Meer kein russisches Schiff mehr rein oder raus.

Aus eigener Anschauung weiß der Verfasser dieser Zeilen, daß wir vor den Atomeisbrechern des Herrn Putin keine Angst haben müssen (sind alle 100 %ig sicher, versicherte man uns hoch im Norden vor gerade mal drei Jahren, weil mit Siemens-Reaktoren bestückt). Mit diesen Atomeisbrechern kann Herr Putin zu jeder Jahreszeit die Nordostpassage befahrbar halten. Aber was nützt es ihm? Auf tausenden von Kilometern könnte er in der Barents-, Kara-, Ostsibirischen und Tschuktschen-See gerade mal Zodiac-Anlandungen unternehmen, sieht man von den wenigen speziellen Industriehäfen wie z.B. in Norilsk ab.

Also, wenn die Ostsee und das Schwarze Meer dicht sind, dann bleiben Herrn Putin noch: Murmansk und Wladiwostok. Wirklich kein Ass im Ärmel für ein Land mit 37.653 km Küstenlinie. Beide Häfen kennt der Verfasser dieser Zeilen aus eigener Anschauung. Der Hafen von Murmansk verhält sich, um es mal so auszudrücken, in seiner Imposanz reziprok proportional zum beeindruckenden 35 m hohen Aljoscha-Soldaten-Monument, das hoch über der Stadt über die Bucht wacht. Und bei Wladiwostok lassen wir einfach wieder Zahlen sprechen: Über den Hafen von Wladiwostok werden jährlich 7 Mio. t Seegüter umgeschlagen. Über den größten europäischen Hafen Rotterdam rd. 450 Mio. t, und über Hamburg immerhin auch 126 Mio. t.

Um an der Stelle dann noch mal auf China zurückzukommen: Wenn Xi doch ein bißchen nachtragender ist, als es momentan so den Eindruck macht, dann hat sich das mit Wladiwostok ohnehin erledigt. Nämlich dann, wenn sich Herr Xi die Putin’sche Auffassung von der Legitimität der Zurückholung angestammter Territorien zu eigen macht. Den Marinestützpunkt errichtete nämlich 1860 der russische Zar Alexander II., zwei Jahre nachdem Rußland den Niedergang der chinesischen Qing-Dynastie erbarmungslos ausgenutzt und den Chinesen im Vertrag von Aigun die Äussere Mandschurei abgenötigt hatte. Freiwillig hatte China diesen Vertrag keineswegs unterschrieben.

Mal angenommen, Polen würde sich mit seinem Vorschlag durchsetzen, sämtliche Handelsbeziehungen zu Russland abzubrechen? Die, die in Polen ein Handelsembargo befürworten, haben ja wahrscheinlich auch schon mal auf die Landkarte geschaut. Ob das im Kreml auch schon jeder gemacht hat, da kommen dem Verfasser dieser Zeilen jetzt allerdings echte Zweifel …

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